Die Sprachlandschaft in der Pandemie
Zusammen mit Teilnehmer/innen der aktuellen Vorlesung "Sprache im öffentlichen Raum" und des Projektseminars "Schoolscapes: Visuelle Sprache in der Schule" dokumentieren wir, wie die Sprachlandschaft Hamburgs auf die Covid-Pandemie reagiert und dadurch die Pandemie diskursiv hervorbringt. Erste Ergebnisse fassen der folgende Beitrag und unser Foto-Slider zusammen.
Text: Jannis Androutsopoulos. Foto-Slider: Franziska Kuhlee. Fotos: Lingua Snapp Hamburg 2020 und Teilnehmende des Seminars Schoolscapes: Visuelle Sprache in der Schule (SoSe 2020).
Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens ab Mitte März 2020 hat sich sofort auf das Straßenbild niedergeschlagen: Sperrungen, Schließungen und sonstige Einschränkungen des Zugangs zu öffentlichen Plätzen müssen an eben diesen Plätzen gekennzeichnet werden, um überhaupt Wirksamkeit zu gewinnen. Zahlreiche Schilder, Aushänge und Straßenmalereien haben die Sprachlandschaft in der zweiten Märzhälfte auf einmal drastisch verändert.
Im Rahmen des Forschungsprojekts LinguaSnappHamburg dokumentieren wir diese Veränderungen. Derzeit liegen uns rund 150 Bilder aus Hamburg und seinem Umland vor. Viele werden direkt mit der Smartphone-App des Projekts aufgezeichnet und annotiert, nach Freigabe erscheinen sie auf der Online-Karte des Projekts. Andere wurden von Studierenden mit ihren Smartphones aufgenommen und dem Projekt zur Verfügung gestellt, eine Auswahl sieht man im Foto-Slider zu diesem Bericht.
Bei der Auswertung dieser Fotos, die wir in der Tradition der Linguistic Landscape-Forschung "Schilder" oder "Textzeichen" nennen, stehen drei Ausgangsfragen im Mittelpunkt:
1) Welche kommunikativen Funktionen erfüllt die Sprachlandschaft in der Pandemie?
Hier lassen sich drei Kategorien unterscheiden. Manche Schilder sind einem einzigen Mitteilungszweck gewidmet, andere tragen Spuren mehrerer Funktionen auf sich.
- Regulierung: Dass Schilder und Aushänge das Verhalten in der Öffentlichkeit während der Pandemie regeln sollen, ist nun wirklich nicht überraschend. Abstand zu halten, Geschäfte einzeln zu betreten und später auch die Maskenpflicht sind gesetzliche Auflagen, deren Umsetzung darauf angewiesen ist, dass sie im öffentlichen Raum kommuniziert werden. Interessant für uns ist die weitgehend fehlende Standardisierung dieser Kommunikation. In der normalen Sprachlandschaft gehört Regulation zu den kommunikativen Aufgaben, deren visuelle Umsetzung – ihr Design – weitgehend standardisiert ist. Man denke nur an Verbotsschilder aller Art. In der Sprachlandschaft der Pandemie sind viele regulierende Schilder hingegen händisch angefertigt, am Heimdrucker eilig ausgedruckt, an das Schaufenster des eigenen Geschäfts hingemalt oder sonstwie improvisiert. Zwar wiederholen sich bestimmte sprachliche oder bildliche Mittel, so z.B. das Piktogramm der Mundschutzmaske oder sprachliche Aufforderungen wie "Einzeln eintreten", aber auch sie sind immer wieder anders hingeschrieben oder -gezeichnet.
- Kommerzielle Information: Gerade in einer Großstadt wie Hamburg machen kommerzielle Schilder den auffälligsten Teil der urbanen Sprachlandschaft aus. In der Pandemie werden sie begleitet und ergänzt durch eilig angefertigte Mitteilungen über die Schließiung des Geschäfts, das angebotene Lieferservice oder die eigene Website zum Onlineshoppen. Analytisch interessant sind diese Aushänge v.a. dann, wenn sie keine konkreten Angebote machen ("Kaffee und Kuchen nur zum Mitnehmen"), sondern das vorübergehende Aussetzen der angebotenen Dienstleistung bekunden, weitere Transaktionen auf eine ungewisse Zukunft verschieben und dabei auch Gefühle und Wpnsche kommunizieren.
- Affektbotschaften: Diese dritte Kategorie ist am interessantesten, weil sie sich von der „normalen“ Sprachlandschaft am deutlichsten unterscheidet. Sie fasst alle Schilder und Zeichen zusammen, die weder regulieren noch anwerben, sondern Gefühlslagen unter den Bürgern der Stadt kommunizieren: Wünsche, Durchhalteparolen, Beteuerungen des Zusammenhalts oder auch Danksagungen an die Menschen, die sich um Kranke kümmern und das öffentliche Leben aufrechterhalten. An einem Teil dieser Botschaften haben offenbar auch Kinder mitgewirkt. Ihre bemalten Papierblätter schmücken Wohnungsfenster und Kita-Zäune.
2) Worin unterscheiden sich Schilder, die auf die Pandemie reagieren, von der bisherigen Sprachlandschaft?
Auffallend ist vor allem die Flüchtigkeit der Materialien, mittels derer über die Pandemie kommuniziert wird. Es überwiegen handschriftliche oder gedruckte Aushänge aus Papier, Malereien auf Papier, Kreidezeichnungen auf den Gehwegplatten, auch Collagen, in denen Gedrucktes und Handschriftliches einander ergänzen. Alles hat eine persönliche, improvisierte Note, die sich einerseits dadurch erklärt, dass öffentliche Botschaften über die Pandemie sehr schnell und im Wesentlichen ohne Vorbereitung aufgesetzt werden mussten, andererseits dadurch, dass zu den Kommunikatoren in der Sprachlandschaft der Pandemiehier nicht nur professionelle Texter/innen und Graphik-Designer gehören, sondern auch normale Bürger und auch Kinder.
Auffallend ist weiterhin die weitgehende Einheitlichkeit in der Sprachwahl. Die Schilder der Pandemie sind fast ausschließlich auf Deutsch. Wir haben in der Datensammlung einzelne Beispiele für Aushänge in mehreren Sprachen (neben Deutsch auch Türkisch und Arabisch) an Kliniken und Arbeitsämtern, vereinzelt auch Aushänge auf Englisch in der Gastronomie. Aber der Unterschied zur mehrsprachigen Beschilderung in der Gastronomie, dem Einzelhandel, dem Unterhaltungssektor und auch bei Stickern ist frappierend. Die Sprachlandschaft der Pandemie ist inklusiv und geradlinig, was die Sprachwahl anbelangt: Alle sollen angesprochen werden, das gelingt am ehesten in der Landessprache.
3) Mit welchen sprachlichen, graphischen und ikonographischen Mitteln wird die Pandemie im öffentlichen Raum repräsentiert?
Hier dauern unsere Auswertungen noch an. Bereits jetzt scheint jedoch fest zu stehen, dass der Diskurs der Pandemie neue Muster der öffentlichen Kommunikation hervorbringt. Dies machen auch linguistische Auswertungen von Zeitungsdaten deutlich, die am Leibniz-Institut für deutsche Sprache Mannheim mit korpus- und computerlinguistischen Methoden durchgeführt werden. Im Hinblick auf die Sprachlandschaft interessieren uns v.a. Muster in der sprachlichen und visuellen Umsetzung von kommunikativen Handlungen. Welche Gemeinsamkeiten und Variationen treten auf, wenn z.B. die Aufforderung zum Abstandhalten kommuniziert wird? In welchen Formen wird die Mundschutzpflicht sprachlich und ikonographisch mitgeteilt? Welche visuellen Symbole (z.B. der Regenbogen) begleiten affektive Botschaften? Diesen Analysefragen gehen wir derzeit nach.
Diese Fragen sind aus linguistischer Perspektive spannend, weil die Sprachlandschaft den Diskurs der Pandemie -- also das gesellschaftliche Wissen darüber, was sie ist und wie sie uns betrifft -- nicht einfach widerspiegelt, sondern ihn überhaupt erst hervorbringt. Anders gesagt: Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens und die Veränderung des öffentlichen Verhaltens waren und sind ohne Veränderung der Sprachlandschaft schlicht nicht möglich. Durch die Dokumentation dieser Veränderung erkennen wir, dass die Sprachlandschaft der Pandemie zugleich einheitlich und vielfältig ist. Sie gewinnt ihre Einheitlichkeit durch das gemeinsame Anliegen des Schutzes vor der Pandemie, ihre Vielfalt durch die gleichzeitige, kurzfristige und weitgehend spontane Auseinandersetzung unterschiedlicher Akteure mit diesem Anliegen.
Hamburg, Mai 2020/Jannis Androutsopoulos
Foto-Slider: Die Sprachlandschaft in Zeiten der Pandemie
Fotos: Lingua Snapp Hamburg 2020 und Teilnehmende des Seminars "Schoolscapes: Visuelle Sprache in der Schule" (SoSe 2020). Bearbeitung: Franziska Kuhlee, MA. Texte: Jannis Androutsopoulos und Franziska Kuhlee.